Die Mehrzahl der Familien pflegt Erkrankte zu Hause: Das hat eine Vielzahl an Folgen
Von Andrea Posselt
Gifhorn. Den 70. Geburtstag ihrer Mutter wird Annett Olders nie vergessen. Da leben ihre Eltern mehr al 300 Kilometer entfernt. Die erhoffte schöne Geburtstagsfeier, zu der sie samt Familie anreisten, endete in einem ersten leisen Zweifel. „Da stimmt doch etwas nicht“. Was nicht stimmte „Die Vorbereitung war eine Katastrophe. Der Kühlschrank fast leer.“ Annett Olders schob es auf den Stress.
Als ihr Vater starb, rutschte ihre Mutter in ein Loch. Sie reiste häufiger hin, um nach dem Rechten zu schauen. Das Gefühl, das sie heute als „komisch“ beschreibt, verstärkte sich. Immer mehr funktionierte nicht mehr im Alltag so wie gewohnt. Fast täglich musste sie ihre Mutter mehrfach am Telefon zum Einhalten von Terminen und Essen und Trinken mahnen. Dann ging sie der Sache auf den Grund. Nach einem Klinik-Check stand die Diagnose fest. Die damals 72-jährige leidet an Alzheimer-Demenz „Vermutet hatte ich das schon“ Sie und ihre Familie fällten die Entscheidung, die heute 77-jährige Seniorin zu sich nach Gifhorn zu holen.
Und seitdem steht der Alltag de dreifachen Muter und der kompletten Familie kopf. Die Mutter, Pflegegrad 3, weiß nicht mehr, ob und wann sie gegessen hat. Zähneputzen, anziehen – ganz alltägliche Dinge müssen rund um die Uhr kontrolliert werden. Anstupsen, damit ihre Mutter mal in den Garten geht ist das eine – „aber dann muss ich das auch immer im Blick behalten“, sagt die 44-jährige. Gut, dass sie ihr liebevolles Wesen behalten habe. Da kennt sie ganz andere Fälle, bei denen Erkrankte sogar aggressiv werden.
Mal eben aus dem Haus gehen und die Mutter alleine lassen – geht nicht. Aktivitäten mit der Familie am Wochenende – keine Chance. Annett Olders ist eine Powerfrau, aber da hadert sie mit der Situation. Viel Entlastung und Stütze erhält sie Dank des Seniorendienstes Kümmern uns So in Gifhorn „Aber gerade am Wochenende fehlt allgemein im System Unterstützung“ bemängelt die Gifhornerin. Ein Spagat für die gesamte Familie. Sogar in den Urlaub fahren die Familienmitglieder inzwischen getrennt, um allen Beteiligten gerecht zu werden.
Die Mutter als viertes Kind, das im Gegensatz zu Kindern jedoch alles verlernt statt dazu zu lernen – „der Rollentausch ist komisch, aber man wächst da rein“. Noch ist die Mutter körperlich so aktiv, die krankheitsbedingten Aussetzer gut zu behandeln, sagt sie. „sie kann eben nichts dafür“. Ein Fortschreiten der Alzheimer-Demenz mag sie sich noch nicht ausmahlen. Die Mutter ins Pflegeheim zu geben, das wäre für Annett Olders ein harter Schritt. Bei Kümmern und So lässt sie sich in einer Schulung Tipps für den Umgang mit Dementen geben. Bettina Welminski von Kümmern und So wirft ins Gespräch ein „Man muss aufpassen, dass der Pflegende nicht auch noch krank wird.“
Sie und ihre Kollegin Antje Schmidt verstehen auch den Ärger von Annett Olders über mangelnde Hilfen der Kassen, den Dschungel an Anlaufstellen, um Kosten abzurechnen. Dabei geht es doch um die Generation, die so viel geleistet habe, fehlt ihr Anerkennung.
„Wir sparen in Deutschland am falschen Ende.“ Ihr Appell an alle, weil Demenz künftig häufiger auftreten wird „Jeder sollte sich schon jetzt damit auseinandersetzen.“
„Es wird nicht einmal gesagt: Das ist schön, dass ihr pflegt“, schildert die 44-jährige enttäuscht. Wie gut, dass es da Kümmern und So gibt. Bettina Welminski begleitet Annett Olders und ihre Mutter und bestärkt dabei die 44-jährige „Seien Sie sicher, ihre Mutter ist ihnen sehr dankbar für alles, was sie tun. Ich spüre das.“
Quelle: Aller-Zeitung vom xx.09.2019
Text / Foto: Andrea Posselt